Samstag, 9. Mai 2009

Von der Book Town zum Bücherdorf. Was in Deutschland nicht läuft, hat andernorts - noch - seine gutbesuchte Nische. Eine Erkundung

Auf Deutsch: Heute Interessantes zum Thema "Bücherstadt":

Seit etwas mehr als 45 Jahren gibt es in Europa und Nordamerika sogenannte Bücherstädte oder book towns: meist eher ländlich abseits der Metropolen gelegene, touristisch nicht unattraktive Gemeinden, die sich dem antiquarischen Buchverkauf verschrieben haben: heimelige Antiquariate mit kuscheligem Wohlfühlambiente in landschaftlich reizvoller Gegend sollten, so die Idee, den touristischen Bücherwurm anlocken und gleichzeitig den Fremdenverkehr ankurbeln; die erste, bis heute bestehende Bücherstadt diesen Zuschnitts entstand 1961 in Großbritannien, dem Mutterland des antiquarischen Bucherhandels: an der englisch-walisischen Grenze im idyllischen Hay-on-Wye.

Weitere bekannte Bücherstädte sind Wigtown im südwestlichen Schottland, das putzmuntere Bredevoort im niederländischen Gelderland nicht weit von der deutschen Grenze; das nicht ganz so pittoreske, dafür französisch-charmant daher kommende ("auf der Suche nach dem verlorenen Buch";-)) Fontenoy-la-joute im industriell geprägten Lothringen; das wie einem Roman der Brontes entsprungene, an Liebreiz kaum zu toppende Sedbergh mitten im Nationalpark von Yorkshire; die allererste Bücherstadt auf europäischem Festland und durch eine unfassbar dilettantisch gemachte Website bestechende südbelgische Redu an der Grenze zu Luxemburg; und jenseits des Grossen Teichs Stillwater in Minnesota, nach eigenen Angaben erste Bücherstadt in Nordamerika überhaupt; und - mein heimlicher Liebling - das urige und ruehrige antiquarische Treiben in der ehemaligen kalifornischen Goldgräberstadt Nevada City nördlich von San Francisco.

Alle diese Bücherstädte oder -dörfer haben eines gemeinsam: die Mitgliedschaft im internationalen Book Town Movement; neben den genannten sind Bücherstädte in Norwegen und Finnland, Kanada und Australien, der Schweiz und - ganz frisch dabei - in Malaysia (auf der Touristeninsel Langkawi) aufgelistet; und natürlich in Deutschland. In Österreich, Süd- sowie Osteuropa gibt es bemerkenswerterweise keine Bücherstädte.

Deutschland ist mit zwei eher kleineren "Bücherdörfern" in den neuen Bundesländern vertreten: Wünsdorf bei Zossen in Brandenburg und - noch winziger und abgelegener - Mühlbeck-Friedersdorf im Landkreis Bitterfeld in Sachsen-Anhalt. Überregional bekannt sind sie - vorsichtig ausgedrückt - eher weniger.

Über die Ortsgrenzen hinaus noch unbekannter, da offenbar nicht Mitglied im offiziellen Booktown Movement, ist das kleine Langenberg, ein Stadtteil von Velbert im Niederbergischen bei Wuppertal: der Webauftritt ist immerhin ansprechend und informativ gestaltet; organisiert wird das antiquarische Treiben in dem ehemaligen Tuchmacher-Örtchen mit den schiefergedeckten Häusern, auf halbem Weg zwischen Ruhrgebiet und der Metropole Köln, von ehrenamtlich engagierten Bürgern sowie der evangelischen Kirche. So richtig in Schwung gekommen ist das Projekt seit seiner Gründung vor ein paar Jahren bis heute nicht: ganze 8 Antiquariate, davon nicht alle Vollprofis, haben sich bislang entlang der kopfsteingepflasterten Strassen und Gässchen etablieren können; angedacht war mal Ehrgeizigeres......

Wenn man die Webauftritte der drei deutschen Bücherdörflein, die in Deutschland ausserhalb der jeweiligen Region kaum jemand kennt, richtig deuten mag, zieht das behäbig und verschlafen wirkende nordrheinwestfälische Langenberg eher ältere Bücherwürmer aus der näheren Umgebung an, Mühlbeck-Friedersdorf hält es mit der Esoterik und mit den Romanen der Zukunft (weist aber auf der Website auf längst nicht mehr aktuelle Termine in der Vergangenheit hin), während das sich noch am engagiertesten und lebendigsten gebende Wünsdorf sich immerhin den Forderungen des Tages stellt und aktuell zu einer Veranstaltung lädt: "Das elektronische Buch - das Ende der Bücherstadt Wünsdorf?" Vortragender und Diskussionsleiter in Personalunion dieser Veranstaltung ausgerechnet in der Gutenbergstraße ist Ralph Patzig von Libri GmbH (Eintritt 5 Euro, Beginn am 28.05. um 20 Uhr); Näheres ist der Website zu entnehmen. Libri ist ein deutscher Barsortimenter aus dem Norddeutschen, der u.a. - teilweise - vor allem logistisch mit Amazon zusammenarbeitet und zum Tschibo-Konzern gehört; die Diskussionen im beschaulichen Wünsdorf dürften lebhaft werden. Dass das brandenburgische Bücherdorf die touristischen Weichen längst woanders stellt, lässt sich unschwer der Website entnehmen.

Hat die Idee der Bücherstädte, dieses charmant-verschrobene Modell für einen etwas anderen Tourismus, überhaupt noch eine Chance in der Zukunft? Dass sich die - zwei offiziellen und eine selbstgestrickte - drei deutschen Book Towns (wenig genug sind es) trotz ihrer Lage in direkten Einzugsbereichen dreier bedeutender deutscher Buch-Metropolen - Berlin, Leipzig und Köln - so wenig im Bewusstsein der lesenden und büchersammelnden Allgemeinheit etablieren konnten, legt den Folgeschluss nahe: in deutschen Bücherlanden ist die Büchertadt ein ziemlich hoffnungsloses Auslaufmodell, dass nie so richtig vom Band ging. Heute scheint der Zug dafür endgültig abgefahren, auch im traditionell bücheraffineren Osten der Republik. Dass mag man schade finden, aber ist wohl nicht zu ändern. Für das Buchobjekt seiner Begierde reist der Sammler nicht mehr kilometerweit in ein langweiliges Provinznest (wo er das Begehrte dann noch nicht einmal vorfindet), sondern surft danach gemütlich zu Hause im Internet.

Im literaturverrückten Schottland, wo finanzkräftige Sponsoren, ein landesweit gerühmtes Poetik-Festival, eine große lokale Buchmesse und vielerlei kulturelle Attraktionen vor allem auch junge Bücherfreunde aus ganz Grossbritannien Sommer für Sommer anlocken, mag das - noch? - anders sein: immerhin lesen in der "nationalen schottischen Bücherstadt" Wigtown auch literarische Schwergewichte wie die vielgerühmte A.L. Kennedy aus ihren Werken; das zieht, zumindest für ein paar Tage im Jahr, die buchkaufenden Massen an. Von derlei hochkarätiger Unterstützung können die drei deutschen Bücherdörfer nur träumen.

Mein persönlicher Tipp für eine sehr spezielle Buchmesse: die Bücherstadt Nevada City in Kalifornien lädt am 15. Mai zur 9. Gold Rush Bookfair auf dem Messeglände des Nevada County in Grass Valley. Vor allem Freunde von Americana, seltenen Schätzchen zur Geschichte des Westens und der Indianerkriege dürften hier voll auf ihre Kosten kommen. Getreu dem Motto der Veranstalter: "It´s like browsing in a great old bookshop!"

Nevada City, das mit dem angrenzenden Grass Valley eine Art Doppelstadt bildet, ist die bücher- und literaturverrückteste Kleinstadt in Kalifornien, vermutlich der gesamten USA: der Stadtrat verdreifachte trotz drückender Finanzsorgen vor ein paar Jahren das Budget für die Stadtbibliothek, das Lokalblättchen leistet sich eine umfangreiche Literaturseite und sogar ein ganz dem Buch und der Literatur verschriebenes Radioprogramm namens Booktwon geht über den lokalen Sender in den Äther. Zahlreiche Schriftsteller und Uniprofessoren, viele aus den näheren Universitätsstädten wie San Francisco hierher aufs geruhsame Land gezogen, bildende Künstler und immerhin stolze 23 Buchhändler - vom Großantiquariat mit über 300.000 Bänden (das größte in ganz Kalifornien, ist zu lesen) bis hin zur Händlerkooperative und zum einzelkämpfenden Wohnzimmer- und Internetbuchverkäufer - beherbergt die 15.000 Einwohner-Gemeinde am Fuß der Sierra Nevada. Ein Eldorado für Bücherfreunde: so gibt es in den größeren Läden Sonderabteilungen nur für Bücher zum Thema Puppenspiel, Wappenkunde und Burgen, Kinderbücher und Americana sowie - Spezialität des Ortes - rare Editionen der Werke Mark Twains.

Die Antiquare und Buchhändler vor Ort gehören keinen Ketten an, bilden lokale Kooperativen, verfassen regelmäßig einen gemeinsamen Newsletter und helfen sich bei Kundensonderwünschen gegenseitig aus. Die bekannte Kolumnistin des San Francisco Chronicle, Adair Lara, hat über die schräge Bücherstadt am Fuß der blauen Berge mit ihrer starken Solidargemeinschaft von Händlern, Kommune und Käufern einen sehr schönen Artikel verfasst: der ist zwar schon drei Jahre alt, wird aber noch der Realität von 2009 in etwa entsprechen; unbedingt lesenswert, jedenfalls lässt der Abgleich mit der Website den Schluss zu. Das so etwas überhaupt noch möglich ist, überrascht und rührt. Also, wer jetzt zufällig in der Gegend ist: auf nach Nevada City und schwelgen! Wie lange noch?

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